Der Teufel steckt im kleinsten aller Details: Im Atom!

"Wahrheit entsteht aus einem Prozess miteinander konkurrierender Interpretationen", so lautet ein berühmtes Zitat eines der größten Philosophen in der deutschen Geschichte, nämlich Friedrich Nietzsche. Sowohl die konkurrierenden Interpretationen, als auch die sich daraus folgerichtig ergebenden verschiedenen, voneinander oft abweichenden, im Widerspruch zueinander stehenden Wahrheiten springen uns im Augenblick der nuklearen Katastrophe in Fukushima geradezu ins Gesicht. Auf der einen Seite heißt es, ein so genanntes vorübergehendes Moratorium sei doch nur angedacht, aufgrund der historischen Zäsur im ökonomischen Kerntechnikbereich und der damit verbundenen neuen Sicherheitsüberprüfung, gleichwohl spielt man affektartig mit der Überlegung eines Ausstiegs vom Ausstieg des Atomausstiegs und nicht zuletzt auch mit Kardinalfragen demokratischer Verantwortbarkeit hierzulande. Auf der anderen Seite wird dieses natürlich von der berüchtigten parlamentarischen Opposition im deutschen Bundestag kritisiert, ja geradezu denunziert; alles sei taktische Farce und Opportunismus, dessen wir Zeuge wurden und werden. Die Luft ist heiß, stimmungsmäßig und allegorisch vielleicht sogar radioaktiv heiß und man möchte meinen, die Parteipolitik spielt sich zum priesterlichen Damoklesschwert der Massen auf in einer Situation, in der solch eine Dimension der Instrumentalisierung viele mit Scham erfüllt. Viele empfinden die Politisierung der Ereignisse der letzten Tage und Wochen als fehl am Platze, gleichwohl versteht man, dass nunmehr verstanden werden muss, womit wir es hier eigentlich zu tun haben.

Natürlich, über das unsägliche Leid des betroffenen Teils der japanischen Bevölkerung wurde und wird selbstredend viel geredet, viel berichtet. Doch auch an das Leid von Tschernobyl wird turnusmäßig dieser Tage in einer großen medialen und öffentlichkeitswirksamen Liturgie erinnert. "Den Gefallenen zum Gedenken, den Liebenden zur Erinnerung, kommenden Generationen zur Warnung". Solcherlei Inschrift findet man in Deutschland an vielen Mahnmalen, welche an die größte Katastrophe in der Geschichte der Menschheit erinnern: Es geht um nichts anderes als den zweiten Weltkrieg. Mich und auch viele andere Pazifisten hat es stets verwundert, dass in der Frage des Weltkrieges, des absoluten internationalen Zerstörungskonfliktes, der Millionenbedrohung man einhellig in Mittel-, West- und Osteuropa stets alles dafür tut, dass so etwas nie wieder passieren kann, nie wieder passieren darf. Es hat den Anschein, als sei die Menschheit in diesem Teil der Welt zur Räson gekommen, es scheint, als habe man nach etlichen Äonen der gesellschaftlichen Irrungen, Wirrungen und Verwirrungen, eingesehen, dass ein Leid von dem Ausmaße der Schrecknisse des zwanzigsten Jahrhunderts nicht noch eine Menschheit überleben wird. Es scheint, als habe die gute, die vernünftige Form der Wahrheit an allen interpretativen Fronten gesiegt. Und als würde sie sich weiter nach höheren Formen der Rationalität, des Humanismus und des Realismus streben.

In der Sache aber über die Macht des von Menschenhand verursachten Bösen zu verfügen, sie zu beherrschen, im 21. Jahrhundert, wähnen wir uns in Überlegenheit. Der Beelzebub ist ausgetrieben und wo er noch nicht ausgetrieben wurde, da wird er eben eingesperrt. Und wo er eingesperrt ist, da ist er auch sicher. Für ihn haben wir (und nicht eben nur wir) alles Mögliche bereitgestellt, um aus seiner Not eine Tugend zu machen. Da wir ihn eingesperrt haben (in Mauern aus waldickem Stahl), ihn gewissermaßen unter Kontrolle halten, pressen wir die Energie aus ihm heraus, die wir für unser alltägliches Leben benötigen. Gut erinnere ich mich noch aus meiner Schulzeit an "Eva und das Atom", an jenen wunderbar beschwichtigenden 50er-Jahre-Propaganda-Film aus den Vereinigten Staaten. Die Menschen konnten damals aus reiner Unwissenheit heraus, eigentlich gar nicht anders, als sich in diese neobiblische Eva zu verlieben, jene, welche die Kraft der Atomenergie nicht nur nutzte, sondern sie auch mit einem strahlenden ansteckenden Lächeln ausstrahlte. Dieses Lächeln, so wissen wir heute, ist ein fauliges, ein tückisch-trügerisches, ein Lächeln, das die Wörter Restrisiko und Unbeherrschbarkeit nach außen fletscht.

Aber obgleich wir uns vor dem Lächeln ekeln und uns nicht mehr ganz so sicher sind, ob der Teufel auch hierzulande, in seinem Gefängnis gehalten werden kann, wollen manche von uns sich auf einen berauschend ignoranten Cocktail aus lobbyistischen Interessen, zeitlich begrenzten Moratorien, heimlichen Nachtgebeten und verstohlenen Blicken einlassen.

Wir befinden uns in einer sehr schwierigen Situation: Einerseits versuchen wir (wie es im Japanischen so schön heißt) nicht unser Gesicht zu verlieren, pietätvoll und voller Anstand der japanischen Bevölkerung seelisch und geistig (ja in gewissen Teilen auch ganz fleischlich und konkret) beizustehen. Und das müssen wir. Es reicht nicht aus den Fernseher einzuschalten und sich glücklich in der Situation zu wissen, dass wir hier in Sicherheit schlummern. Genau aus diesem Grunde ist es gut, gut, dass wir uns heute hier versammeln, um mahnend der Schrecknisse zu gedenken, ein Lichtlein entzünden, um zu beten und zu hoffen. Gerade auch ich habe die Ereignisse mit äußerster innerer Wallung, Anteilnahme und tief verwurzeltem Mitgefühl verfolgt, denn Japan ist für mich mehr als nur ein Land unter vielen. Die Kultur und das Wesen Japans begleiten mich seit meiner frühen Kindheit. Nicht nur Fassungslosigkeit, sondern auch tiefe Trauer überfielen mich mit der Meldung des geschehenen Flut- und Beben-Unglücks und noch drohenden Atomunglück. Nichtsdestotrotz ist es auch andererseits gleichermaßen neben der Trauer wichtig, das scharfe Schwert des Samurais nicht nur in seinem Herzen stecken zu lassen. Es gilt auch das Schwert herauszuziehen, ja, es zu einer Waffe der Vernunft und Einsicht zu machen. So hart und unpassend es auch erscheinen mag…

Lars Olov Höglund, der bekannte schwedische Kraftwerkskonstrukteur, sagte letzten Mittwoch die "Sowjetunion sei zum Glück eine Diktatur" gewesen. Warum er sagte er das? Für Tschernobyl musste eine ganze Armee, zehntausende von Dienstpflichtigen aus der ganzen U.d.S.S.R., die heute geschichtlich Liquidatoren genannt werden, entsandt werden, um Tschernobyl zu sarkophagoisieren, um den Teufel für Jahrtausende einzusperren. In einem totalitären Staatsgefüge funktioniert das Verheizen von menschlichen Kräften per Knopfdruck. Der Beelzebub, der Herr der Fliegen, begnügt sich aber nicht allein, im Sarkophag dahinzuvegetieren. Als Herr der Fliegen stürzt er sich nicht nur auf alle Unreinheiten und jeglichen Mist, er produziert sie auch, schamlos und im Pakte mit den Menschen. Einen ganzen Salzstock hat er in Deutschland schon unter seine Fittiche. In Japan verseucht er gegenwärtig Wasser, Boden und Luft.

Ein fast schon mittelalterliches Szenario drückt sich uns dabei aufs Auge: Ist der Mensch zu schwach oder der von Menschenhand hergelockte bildliche Teufel zu stark? Eines steht fest: Ihn aus dem Atom, dem kleinsten aller Teile, zu isolieren, das bringen wir nicht zustande. Auf jeden Fall sind es die Ausreden, welche die Mächtigen übers Wasser halten. Vielleicht sind es auch stille Gebete des Verschont-werden-Wollens. Schlechte Reaktoren gab es nur in der Sowjetunion, Terrorismus gibt es nur in Amerika und Erdbeben und Tsunamis nur in Japan. Doch der Teufel, für den wir uns nicht verantwortlich fühlen, hat immer ein anderes Gesicht, wie ein Chameläon schleicht er sich in unser täuschbares Bewusstsein. Das Schlimme auch hieran: seine Anwälte und Verkäufer sind Fachexperten, welche glauben ihren Klienten zu kennen. Doch er spielt ein anderes Spiel, eins das sowohl betriebswirtschaftlichen, als auch naturwissenschaftlichen Berechnungen Hohn spricht, ein Spiel der Unberechenbarkeit, das nur eine Kalkulation gewiss erscheinen lässt: Dass man neben Unmengen an Energie, immer die Sichel des Todes mit einkauft. Und genau deswegen müssen wir den Vertrag nicht nur so schnell als möglich kündigen, sondern uns mit unserer Unterschrift künftig immer zurückhaltender zu geben, wenn wir wissen, dass er vor uns steht.



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